Warum sind Verschwörungserzählungen für Sie als Medienwissenschaftlerin interessant?
Weil sie an die Grundfesten unseres Vertrauens in massenmediale Kommunikation rühren. Im Inneren jeder Verschwörungserzählung lauert ein unauflösbarer Zweifel an der Durchschaubarkeit medialer Vermittlungszusammenhänge. Insofern zeigen Verschwörungstheorien in überpointierter und kondensierter Weise zentrale Fragestellungen der medialen Konstruktion von Wirklichkeit auf. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive hat mich dabei vor allem die Frage beschäftigt, welche Rolle die medienkulturhistorische Transformation vom Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium bis zum Siegeszug des Internets im Allgemeinen und Social Media im Besonderen für die Verbreitung von Verschwörungstheorien spielt. Ich verwende übrigens ganz bewusst den Begriff der Verschwörungstheorie, auch wenn dieser umstritten ist. Die Frage ist, ob man der Verschwörungstheorie nicht zu viel der Ehre erweist, wenn man sie als solche bezeichnet. Sicherlich erheben Verschwörungstheorien oft einen gewissen Wissenschaftsanspruch – mal mehr, mal weniger überzeugend. Doch im Kern der Verschwörungstheorie geht es nicht um wissenschaftliche Erkenntnis um ihrer selbst willen. Das Interesse der Verschwörungstheorie ist ein forensisches, es geht ihr darum, der unterstellten Verschwörung – und somit einem Verbrechen – auf die Spur zu kommen. Wenn die Verschwörungstheorie also eine Theorie formuliert, dann gleicht diese eher der detektivischen Ermittlungshypothese. Auch Anhänger von Verschwörungstheorien betätigen sich als Detektive, nur dass sie selten einen Tatort, sondern vielmehr die mediale Zeichenoberfläche nach verborgenen Spuren absuchen. Insofern erzählen sie uns nicht nur eine Geschichte, oder anders gesagt: Sie erzählen eine bestimmte Geschichte, nämlich eine Kriminalgeschichte, in der bestimmte Theorien oder Hypothesen aufgestellt werden. Insofern handelt es sich bei der Verschwörungstheorie um eine besondere Form der Theorie und eben nicht um eine Theorie im wissenschaftlichen Sinne.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Verschwörungstheorien und der Entstehung und Entwicklung der Massenmedien?
Ohne das Aufkommen einer bürgerlichen Öffentlichkeit um 1800 hätten sich die Formen und Funktionen der modernen Ausprägungsvariante des verschwörungstheoretischen Diskurses gar nicht entfalten können. Für die soziokulturelle Entwicklung von Öffentlichkeit war wiederum die Nutzung von Medien konstitutiv, sprich Druckerzeugnisse sowie deren Verbreitungs- und Rezeptionsweisen, aus denen schließlich die modernen Massenmedien hervorgingen. Als die öffentliche Meinung dann schließlich mehr und mehr als Machtfaktor gesehen wurde, stieg auch die Zahl fingierter Verräterschriften, die zur vorgeblichen Selbstdenunziation ihrer Verfasser führen sollen. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür sind die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die erstmals 1903 im russischen Kaiserreich veröffentlicht wurden und als antisemitisches Werk zu trauriger Berühmtheit gelangten. Auffällig ist dabei, dass Verschwörungstheorien spätestens seit dem Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium immer wieder um Medienereignisse kreisen und diese zu bevorzugten Einfallstoren ihres Verdachts machen. Der Begriff Medienereignis impliziert dabei bereits, dass Medien einen konstitutiven Anteil an der Ereignishaftigkeit der Ereignisse haben. Wenn Verschwörungstheorien also Medienereignisse ins Visier nehmen, dann betrifft das in der Regel nicht nur das durch die Medien Beobachtete, sondern auch die Beobachtung der Medien selber.
Gibt es mediale Ereignisse, die sich besonders für Verschwörungstheorien eigenen?
Ja, und zwar solche Ereignisse, die maximale Aufmerksamkeit erzielen und in irgendeiner Form eine historische Zäsur darstellen – nach ihnen scheint nicht mehr so zu sein, wie zuvor. Das macht sie für divergierende Sinnzuweisungsansprüche disponibel und offenbar besonders attraktiv für Verschwörungstheorien. Als Beispiele wären hier das Attentat auf John F. Kennedy 1963, die Mondlandung 1969 oder die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu nennen. Hinzu kommt, dass die massenmediale Berichterstattung zu diesen Ereignissen häufig von Unschärfen durchzogen ist. In undurchsichtigen Nachrichtenlagen kommt es oft zu Falschmeldungen und Gerüchten, aber auch zu Sendeausfällen und anderen technischen Störungen. Das sind ideale Ansatzpunkte für die paranoische Lektürelogik der Verschwörungstheorie. Vieles, was sich im Fernsehen „versendet“ und als Fehlinformation vielleicht schlicht nicht mehr wiederholt wird, wird von der Verschwörungstheorie als Widersprüchlichkeit zitiert, um so die gesamte Berichterstattung in Zweifel zu ziehen. Die sozialen Medien, allen voran Videoplattformen wie YouTube, bilden dabei ideale Sammelplätze für die paranoische Überwachung des Massenmediums Fernsehen und zugleich ein Vergemeinschaftungsforum für die Anhängerschaft von Verschwörungstheorien.
Und umgekehrt haben Verschwörungserzählungen eine bestimmte mediale Form? Durch was zeichnen sie sich aus?
Wenn wir bei der Vorliebe der Verschwörungstheorie für die Unschärfe bleiben: Eine bewährte Zeichendeutungsmethode besteht darin, das mediale Ausgangsmaterial so lange einer Bearbeitung zu unterziehen, bis sich an ihm vermeintlich eine Spur zu erkennen gibt. So lässt sich angeblich auf Fotoaufnahmen vom Tatort des Kennedy Attentats der schemenhafte Umriss eines weiteren Schützen erkennen, der sich hinter einem Bretterzaun verschanzt haben soll. Das Bild wird dabei so lange vergrößert, bis zwischen der Körnung des Fotomaterials und der Abbildung eines vermeintlichen Referenzobjekts nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Spur dürfte aus verschwörungstheoretischer Perspektive auch deswegen so beliebt sein, da sie – im Gegensatz zu kodierten Mitteilungen – vermeintlich ohne intentionale Zeichenvermittlung auskommt. Die Spur wird ja unabsichtlich am Tatort hinterlassen, im Unterschied etwa zu einem Bekennerschreiben, das eine Botschaft vermittelt und noch dazu eine gewisse Wirkung intendiert. Allerdings muss auch eine Spur erst noch gelesen werden – und was sie zu sehen gibt, liegt stets im Auge des Betrachters
Gibt es Chiffren, Bilder etc., die immer wieder auftauchen?
Es lassen sich in der Tat gewisse Deutungsstrategien feststellen: Die Spurensuche wurde bereits genannt, hinzu kommt die Decodierung, d. h. im Unterschied zur Spur, die unabsichtlich hinterlassen wurde, eine Entzifferung von geheimen Botschaften, durch die die Verschwörer untereinander kommunizieren oder sich mit ihren Taten brüsten. Dann gibt es noch die Diagrammatik, also das Vorführen von vermeintlichen Unvereinbarkeiten mittels grafischer Schaubilder und die Zeugenschaft, sprich die unmittelbar am Ort des Geschehens involvierten Augenzeugen, die oft viele, sich untereinander widerstreitende Perspektiven liefern. Und es gibt ein grundsätzliches Prinzip, das sowohl auf Ebene der Zeichendeutung als auch im größeren Narrationszusammenhang eine Rolle spielt und dieses lautet: „Nichts ist, wie es scheint“. Alles kann jederzeit auch ganz anders verstanden werden oder gar in sein Gegenteil umkippen. Was in einem Moment als ein unumstößlicher Beweis gehandelt wird, kann im nächsten Moment zum Indiz einer großangelegten Täuschung werden. So war es bei dem berühmten Amateurfilm, der das Kennedy Attentat in einer tonlosen Sequenz in voller Länge zeigt, auch bekannt als Zapruder Film, benannt nach dessen Urheber. Nachdem dieser Film jahrzehntelang als unbestechliches Zeugnis gesehen wurde, wird ihm in der jüngsten Vergangenheit mit viel Skepsis begegnet, bis hin zu der Unterstellung, dass er komplett manipuliert wurde. Die dahinterstehende Annahme hat freilich sehr weitreichende Konsequenzen: Gerade, weil eine Quelle so hohes Vertrauen genießt, gibt es scheinbar umso mehr Grund, ihr zu misstrauen.
Man sagt ja oft, Verschwörungserzählungen machen Spaß? Lässt sich das aus medienwissenschaftlicher Perspektive erklären?
Absolut, lange Zeit kannten wir Verschwörungstheorien ja überwiegend aus der Populärkultur. Uns lief Woche für Woche ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn wir zusammen mit Fox Mulder gegen die Vertuschungsversuche der US-Regierung versuchten, das Rätsel um das Verschwinden seiner mutmaßlich von Außerirdischen entführten Schwester zu lösen. Der paranoische Verdacht ist ein sehr beliebtes Erzählprinzip für Fortsetzungsserien und sorgte dafür, dass Akte X zur Kultserie werden konnte. Weil die angebliche Verschwörung die Aufdeckung sämtlicher Zusammenhänge verhindert, wird die Auflösung immer weiter in die Zukunft verschoben. Darin unterscheidet sich der Verschwörungstheoretiker übrigens vom Detektiv: Die Verschwörungstheorie bringt die Indizienkette bestenfalls zu vorläufigen Abschlüssen und ist daher durch eine permanente Verlängerung des Verdachts gekennzeichnet. Und deshalb ist die Verschwörungserzählung nicht nur spannend und rät zum Miträtseln ein, sie ist vor allem nie zu Ende erzählt und auf permanente Fortsetzbarkeit angelegt.
Kann Medienkompetenz dabei helfen, Verschwörungsdenken zu verhindern? Wie könnte das funktionieren? Welche konkreten Kompetenzen bräuchte es dazu?
Die wichtigsten Fragen sind sicherlich, woher eine Information stammt und wer ein Interesse daran hat, sie zu verbreiten. Je mehr seriöse Quellen es für eine Nachricht gibt, umso verlässlicher ihr Inhalt. Die eigene kritische Urteilsfähigkeit kann im Zweifelsfall durch die Konsultation von einschlägigen Seiten wie correctiv.org, mimikama oder scopes sowie einen Faktencheck über die Google Bildersuche unterstützt werden. Entscheidend ist dabei sicherlich die Glaubwürdigkeit, die der jeweiligen Quelle zugebilligt wird. Journalistische Qualitätsstandards bilden ein Fundament, das Vertrauen schaffen soll – umso gefährlicher ist es, wenn dieses Vertrauen durch Skandale untergraben wird, bei denen Journalisten von diesen Standards abweichen, auch wenn das sehr selten passiert. Umgekehrt genießen diejenigen, die von sozialen Medien aus senden, oft per se einen gewissen Glaubwürdigkeitsbonus, weil sie unabhängig scheinen. Unter Netzbedingungen haben sich die Verbreitungs- und Wirkmöglichkeiten von Verschwörungstheorien erheblich gesteigert. Und gewisse Tendenzen, die zuvor schon im Verschwörungsdenken zu finden waren, werden verstärkt: wie der Hang zu einer Zusammenstellung von Material unter Absehung von urheberrechtlichen oder quellenkritischen Bedenken, die Gerüchtekommunikation als schier unerschöpfliche Quelle verschwörungstheoretischer Spekulationen sowie die Angewohnheit, sich wechselseitig zu bestärken und aufeinander zu verweisen. Eine langfristige Präventionsarbeit setzt daher nicht nur an der Förderung eines kritischen Umgangs mit Medieninhalten an. Verschwörungstheorien sind grelle Warnsignale von Vertrauenskrisen und tragen fatalerweise nicht unwesentlich dazu bei, diese zu verschärfen. Wenn ein Mensch erstmal glaubt, dass alle gewählten Volksvertreter einer geheimen, nur zum eigenen Nutzen handelnden Elite angehören und die etablierten Massenmedien sowieso nur lügen, dann wird es schwer diesen noch zu erreichen. Das Vertrauen in eine wehrhafte Demokratie ist das wirksamste Mittel gegen den Verschwörungsglauben und findet sich in diesen Tagen wohl mehr denn je herausgefordert. Die Trump Jahre in den USA und die sozialen Zerwürfnisse während der Corona-Pandemie haben antidemokratischen Mächten in die Hände gespielt. Wenn die Politik darauf nicht nur keine Antworten findet, sondern auch noch Mittel kürzt, dann dürften sich die Feinde der Demokratie darüber sehr freuen.